Hamburg, 11.08.2014
„Südzentrale“ in Wilhelmshaven
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Wagner,
die Deutsche Stiftung Denkmalschutz hat sich seit ihrer Gründung im Jahre 1985 für die Bewahrung des baulichen Erbes aller Epochen der Geschichte unseres Landes eingesetzt und seine Rettung und Erhaltung mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gefördert.
Nach den verheerenden Verlusten im 2. Weltkrieg und den gleichermaßen verlustreichen Nachkriegsentwicklungen ist jetzt dringend geboten, ernsthaft darüber nachzudenken, ob unsere Generation ihren Enkeln ein von Geschichtszeugnissen weitgehend bereinigtes Land hinterlassen will.
Mit zunehmendem Interesse verfolgt die Stiftung die aktuellen Debatten über Abriss oder Erhalt gerade von architekturgeschichtlichen Zeugnissen, zu denen zweifellos die sog. „Südzentrale“ von 1908 in Wilhelmshaven gehört.
Die bisher benannten Argumente, die einen Abbruch dieses bau- und stadtgeschichtlich unverzichtbaren, mit der historischen Entwicklung der Stadt Wilhelmshaven eng verbundenen Gebäudes wegen seines desolaten Entwicklungszustandes und damit begründeter hoher Reparaturbedürftigkeit forderten, können einer ernsthaften öffentlichen Diskussion heute nicht mehr standhalten.
Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz bedauert den geplanten Abbruch der „Südzentrale“, eines in Deutschland einzigartigen Industriedenkmals, außerordentlich.
Gegenwärtig stehen allerorten historische Bauten auf dem gesellschaftlichen Prüfstand. Sie sind - ob Denkmal oder nicht - angesichts zahlreicher Maßnahmen, die ihre Wurzeln in kulturellem Unverständnis, in politischer Opportunität oder allzu kurzsichtigem, wirtschaftlich motiviertem Gewinnstreben haben, oft unzureichend geschützt und in ihrer Existenz akut gefährdet.
Von jeher erfüllten Bauwerke nicht allein praktische Funktionen, sondern sie sind darüber hinaus zugleich Bedeutungsträger. Durch ihre Einfügung in die Umgebung, die Sprache ihrer Materialien und die Ausdruckskraft ihrer Formen erzählen sie von Wertorientierung, von Ansprüchen, Tugenden und Untugenden ihrer Gesellschaft.
Sie verkörpern stets den Geist der Zeit.
Eine Gesellschaft, der Baudenkmale als Dokumente ihrer Geschichte anvertraut sind, hat das Recht, aber auch die Pflicht, sie zu erhalten und zu nutzen.
In Wilhelmshaven hat jedoch die Abrissdebatte der Vergangenheit um die „Südzentrale“ kein Gespür für den Wert des kulturellen Erbes der Stadt trotz mehrfach wiederholter Proteste und diverser Nutzungsvorschläge der Bürgerschaft und engagierter bürgerschaftlicher Vereinigungen erkennen lassen.
Zahlreiche Entscheidungen der Verwaltung und von Teilen einer einseitig interessierten Wirtschaft nährten den Verdacht, dass sich die Verantwortlichen des baukünstlerischen Wertes des ihnen anvertrauten Denkmals nicht bewusst waren und auch heute noch nicht sind.
Die in der Deutschen Stiftung Denkmalschutz seit Jahren tätigen Denkmalpfleger, Kunsthistoriker und Architekten, die aus jahrzehntelanger beruflicher Praxis und wissenschaftlicher Arbeit mit den Fragen der Erhaltung und Weiterentwicklung des baulichen Erbes vertraut sind, stimmen in der Sorge um die Erhaltung historischer Bauwerke überein und diskutieren in den jährlichen Sitzungen ihrer Wissenschaftlichen Kommission ausführlich über die akute Gefährdung und die Bedeutung der Denkmale sowie der historischen Stadtquartiere.
Die teilweise öffentlichen und von einem zunehmend positiven Medien-Echo begleiteten Debatten der vergangenen Monate, die die Gedanken eines zeitgemäßen Denkmalschutzes in Deutschland deutlich formulierten, haben gezeigt, dass am kulturellen Leben unseres Landes interessierte Bürger als emanzipierter Teil einer in Planungs- und Wandlungsprozesse eingreifenden Gesellschaft nicht mehr bereit sind, nicht nachvollziehbare Entscheidungen über das Schicksal von Baudenkmalen unwidersprochen hinzunehmen.
Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz und ihre 190.000 Förderer mit ihrer Spenden- und Verantwortungsbereitschaft können in diesem Zusammenhang nach 30 Jahren erfolgreicher Arbeit für sich in Anspruch nehmen, als inzwischen größte Bürgerinitiative der deutschen Denkmalpflege die Repräsentanz derjenigen Bürger darzustellen, die sich der Erhaltung und Pflege der Denkmale in Deutschland verpflichtet fühlen.
Alljährlich dokumentiert der Tag des öffentlichen Denkmals das überwältigend große Interesse einer emanzipierten Bürgerschaft an historischer Architektur. Dieses Interesse steht in auffallendem Widerspruch zu zahlreichen politischen Entscheidungen, die den Eindruck erwecken, dass selbst herausragende historische Bauten nicht gegen ihre leichtfertige Vernichtung geschützt sind.
Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz erwartet vor allem von den in Politik und Wirtschaft verantwortlich Handelnden Sensibilität, Verantwortungsbewusstsein und Standfestigkeit im Umgang mit den unter Denkmalschutz stehenden Bauten.
Der Vorstand und die Mitglieder der Wissenschaftlichen Kommission der Deutschen Stiftung Denkmalschutz appellieren daher an die gesamtgesellschaftliche Verantwortung der politischen Funktionsträger in Wilhelmshaven, sie mögen ihre weiteren Planungsschritte und politischen Entscheidungen grundsätzlich im Bewusstsein der Achtung vor der Leistung und den Entscheidungen ihrer Vorgänger treffen.
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, bitte ziehen Sie die bereits erteilte Abbruchgenehmigung zurück und unternehmen Sie alles, um die „Südzentrale“ als unverzichtbares historisches Erbe der Stadt Wilhelmshaven zu retten!
Engagierte Bürger der Stadt und die Deutsche Stiftung Denkmalschutz stehen als Gesprächspartner über das Schicksal des Baudenkmals bereit.
Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass die Bedeutung der von der Stadt Wilhelmshaven getroffenen Entscheidungen rechtfertigt, dass die Deutsche Stiftung Denkmalschutz dieses Schreiben als offenen Brief einer interessierten Öffentlichkeit zur Kenntnis bringt.
Horst v. Bassewitz
Dipl.Ing. Architekt
Vorsitzender der Wissenschaftlichen Kommission
der Deutschen Stiftung Denkmalschutz